Der „alte" oder der „erste" Bund war auf gesetzliche Verpflichtungen gegründet. Nachdem Mose die Worte Jehovas: „Wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören und meinen Bund halten werdet, so sollt ihr mein Eigentum sein aus allen Völkern ...", vor den Ohren des ganzen Volkes geredet hatte, sprachen sie: „Alles was Jehova geredet hat, wollen wir tun!" (2. Mo 19,5. 8. Dann nahm Mose von dem Blute der dargebrachten Opfer, das zur Besiegelung des Bundes diente, sprengte es auf das Volk und sprach: „Siehe, das Blut des Bundes, den Jehova mit euch gemacht hat über alle diese Worte" (Kap. 24,8. In Hebräer 9,18 wird auf diese Tatsache hingewiesen.
Dieser Bund war also auf den Gehorsam des Menschen gegründet. „Wenn ihr...", so hatte Gott gesagt. Daraus ergab sich von vornherein seine Mangelhaftigkeit, ja sogar seine völlige Hoffnungslosigkeit. Unmöglich konnte auf einem solchen Boden eine friedevolle Beziehung Israels zu Gott, ein bleibendes Verhältnis zwischen dem Heiligen und dem sündigen, gefallenen Geschöpf aufgebaut werden. Zwar floß, wie wir hörten, auch Blut bei der Einweihung dieses Bundes, aber es war das Blut von Böcken und Stieren, das niemals Sünden hinwegnehmen konnte. Es trat sogar der Tod ein, aber es war nicht der Tod eines heiligen und fleckenlosen Menschen, wie dies bei Christus der Fall war. Es war auch nicht der Tod des vollkommenen Erlösers, der die ganze Verantwortung des Schuldigen auf sich nehmen und ihn nach vollbrachtem Werke mit Sich selbst in eine völlig neue himmlische Stellung versetzen konnte. Das Blut des alten Bundes besiegelte nur die Verantwortlichkeit des Menschen, alle Worte und Gebote Gottes zu halten und ihnen zu gehorchen.
Die Segnungen des alten Bundes waren also von dem Gehorsam des Volkes Israel abhängig, Seine Grundlage war das Blut von Stieren und Böcken, das von einem lebenden Mittler dargebracht und gesprengt wurde. - Der neue Bund hingegen gründet sich auf den Tod des Mittlers selbst und auf Seinen Gehorsam bis zum Tod, ja, bis zum Tod am Kreuze; ihm dient als unerschütterliche, ewig sichere Grundlage das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes. Der alte Bund verhieß Segen, wenn Israel den Geboten Gottes folgen würde; der neue Bund bringt Segen, und zwar Segen, der sich auf keine an Menschen gestellte Bedingungen gründet, sondern ausschließlich aus der Unumschränktheit Gottes, aus den Ratschlüssen Seiner Gnade hervorfließt.
Der alte Bund vom Berge Sinai wurde mit dem Volke Israel geschlossen. Es liegt die Annahme nahe, daß der neue Bund mit uns, den Christen, gemacht worden sei. Dies ist jedoch nicht so, sondern der neue Bund steht ebenfalls mit dem Volke Israel in Verbindung, wird aber erst am Ende der Tage mit ihm geschlossen werden. Dies ist nach der Entrückung der Versammlung der Fall, wenn der Herr wieder mit Israel anknüpft und nach der großen Drangsal einen Überrest aus ihnen in das Reich einführen wird. Der neue Bund ist also noch nicht vollzogen. Das wird vielfach übersehen, obwohl im Alten wie im Neuen Testament deutlich darüber geredet wird. „Siehe, Tage kommen, spricht Jehova, da ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund machen werde: nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern gemacht habe an dem Tage, da ich sie bei der Hand faßte, um sie aus dem Lande Ägypten herauszuführen, welchen meinen Bund sie gebrochen haben; und doch hatte ich mich mit ihnen vermählt, spricht Jehova. Sondern dies ist der Bund, den ich mit dem Hause Israel machen werde nach jenen Tagen, spricht Jehova" (Jer 31,31-33). Diese Stelle wird in Hebräer 8 angeführt, und zwar mit der bedeutsamen Änderung oder ausführlichen Fassung des Wortlauts: „Siehe, es kommen Tage ... da werde ich in bezug auf das Haus Israel und in bezug auf das Haus Juda einen neuen Bund vollziehen", und später: „Dies ist der Bund, den ich dem (nicht: mit dem) Hause Israel errichten werde..." (Heb 8,8. 10; vergl. Kap. 10,16).
Der neue Bund wird im Gegensatz zu dem alten auf dem Boden bedingungsloser Gnade errichtet werden: „Denn ich werde ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken" (Jer 31,34). Er ist also in einem Sinne nur einseitig, d. h. die eine der beiden Parteien übernimmt alle Verpflichtungen, die andere gar keine, sie empfängt nur. Darum kann auch nicht von einem gemeinsam geschlossenen Bund gesprochen werden, der Bund wird in bezug auf die beiden Häuser Israels vollzogen oder, besser gesagt, den beiden Häusern von selten Gottes errichtet werden. Alles ist Gnade und muß Gnade sein, wenn es anders Bestand haben soll, Gnade, „die durch Gerechtigkeit herrscht zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn" (Rom. 5,21).
Wiederholen wir also: Der neue Bund ist noch nicht vollzogen. Die Grundlage für ihn ist gelegt, sein Fundament und sein Siegel sind der Tod Christi. Seine Segnungen genießen wir heute schon, während seine Ergebnisse für Israel noch nicht zu sehen sind. Die Tage, an denen er vollzogen wird, sind noch zukünftig. Der alte Bund stellt zwar vorbildlich alles vor unsere Augen, was dem neuen Bunde zur Grundlage dient, aber der Mensch war, wie wir gesehen haben, nicht imstande, ihn zu halten. Der alte Bund ist durch die Schuld Israels für immer gebrochen worden, und der neue, von Gott verheißene Bund bildet die einzige Hoffnung für das irdische Volk Gottes sowie alle Bewohner des zukünftigen Erdkreises.
In der Zwischenzeit vollzieht sich ein anderer Ratschluß Gottes. Als der Messias zum letzten Male mit dem kleinen Überrest aus Israel das Passahfest feierte, brach Er alle Beziehungen zu dieser Erde ab. Er wollte weiterhin nicht mehr von dem Gewächs des Weinstocks trinken, lenkte aber die Blicke der Jünger auf bessere Tage, in welchen sie die Genossen Seines Glückes sein und den Wein der Freude neu mit Ihm trinken sollten. Dieses Vorrecht galt nicht nur ihnen, sondern auch vielen anderen mit ihnen. Ohne diese anderen näher zu bezeichnen, deuten die Worte des Herrn Jesus doch darauf hin, daß neben Israel viele der wunderbaren Wirkungen und Ergebnisse Seines Todes teilhaftig werden sollten. Dieser Tod des Herrn, des Messias, machte einen völligen Bruch mit der Vergangenheit, in ihm wurden die Grundlagen des neuen Bundes gelegt, aber der Bund selbst noch nicht errichtet. Der Tod Christi brachte Israel und den Nationen eine bedingungslose Vergebung der Sünden.
Am Ende der Tage, der gegenwärtigen Haushaltung, wenn Gott, eingedenk Seiner unbereubaren Berufungen und Gnadengaben, sich Israel wieder zuwenden und die herrliche Verheißung von Jeremia 31,31 ff. in Erfüllung gehen lassen wird, werden, wie schon angedeutet, die Völker der Erde an den Segnungen des neuen Bundes mit Israel teilnehmen. Die ganze Erde wird dann voll sein der Erkenntnis Jehovas. Gegenwärtig aber führt Gott Seinen wunderbaren Ratschluß in bezug auf Christus und Seine Versammlung aus. Er beruft ein himmlisches Volk, das nicht mit dem König Israels, sondern mit dem verherrlichten Menschensohn zu Seiner Rechten in Verbindung steht. Durch den Heiligen Geist sammelt Er jetzt eine Braut für Seinen Geliebten, „das Weib des Lammes". Himmlische Dinge und Beziehungen sind dadurch geoffenbart. Das wunderbare, von den Zeitaltern her verborgene „Geheimnis des Christus" entfaltet sich. Aus allen Völkern dieser Erde, aus Juden und Heiden, wird durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes nun ein Leib gebildet, die Versammlung (Gemeinde), die mit ihrem Haupte, dem verherrlichten Christus, jetzt schon und für ewig droben vereinigt ist.
Dieser Leib, die Versammlung, gehört nicht zum neuen Bunde. Er kann nicht dazu gehören, weil er in ganz anderen Beziehungen zu Gott und zu dem Herrn Jesus steht, als Israel oder die Gläubigen zur Zeit des tausendjährigen Reiches je stehen werden. Die einzelnen Glieder dieses Leibes sind Kinder Gottes, die, durch den Geist geleitet, „Abba Vater!" sagen können, und mit Kindern macht man keinen Bund. Sie bilden eine Genossenschaft mit Christus, „dem Erstgeborenen unter vielen Brüdern", sind das himmlische Volk Gottes und in das Heiligtum droben eingeführt. Sie stehen wohl in einem Sinne auf der Grundlage des neuen Bundes, indem das Blut des neuen Bundes für sie geflossen ist, aber sie stehen nicht in einem Bundesverhältnis zu Gott, denn auch Segnungen ganz anderer und höherer Art sind ihr Teil. Der Mittler des neuen Bundes ist als der Auferstandene ins himmlische Heiligtum eingegangen, und die himmlischen Dinge selbst, deren Vorbilder im alten Bunde gesehen wurden, sind jetzt dem Glauben erschlossen. Der Vorhang ist zerrissen, und wir haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut des Herrn Jesus, auf dem neuen und lebendigen Wege.
Dort sind wir jetzt schon in und mit Christus gesegnet, dort liegt unser Teil. Bei der tatsächlichen Vollziehung des neuen Bundes in kommenden Tagen wird aber der Herr als Hoherpriester, der jetzt für Israel verborgen ist, aus dem himmlischen Heiligtum zurückkehren und Sein Volk auf der Erde in die Segnungen des neuen Bundes einführen. Auf diesen Augenblick weisen alle Schriftstellen hin, die von der Errichtung des neuen Bundes reden.
Im Anschluß an diese Gedanken wird es nicht schwer sein, die Worte des Herrn in Verbindung mit dem Kelch des Gedächtnismahles zu verstehen: „Dieses ist mein Blut, das des neuen Bundes, welches für viele vergossen wird" (Mt 26,28; Mark. 14,24), oder auch Lukas 22,20: „Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute, das für euch vergossen wird." Der Herr stellt den Jüngern vor, daß eine weitaus bessere Befreiung und Errettung auf einer besseren und neuen Grundlage als es ihnen der alte gesetzliche Bund mit seinen Bedingungen je hätte bieten können, ihr Teil in der Zukunft sein sollte.